Tuesday, October 27, 2009

Janes Tagebuch

Er las wieder in Janes Tagebuch. Denn es war alles, was ihm von Jane geblieben war.

Eine Traene rann ueber sein Gesicht, als er die unbeholfene Skizze einer Blume erblickte. Er erinnerte sich: sie waren spazieren gegangen, an einem wunderschoenen Sonntagmorgen im Fruehling 79. Er hatte ihr Maigloeckchen gepflueckt und sie hatte ueber das ganze Gesicht gestrahlt. Bei dieser Erinnerung verzog sich sein Mund ungewollt zu einem abwesenden, melancholischen Laecheln. Wie sehr er sie doch immer noch liebte.

Seine Gedanken irrten ziellos umher, verschwommene Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf, als haette ein Kind mit einer Kamera gespielt.

Klick. Jane und er bei einer Partie Scrabble. Klick. Jane, die sich anmutig zu leiser Musik wiegt. Klick. Jane, die Toms Bild mit einem Feuerzeug anzuendete. Klick. Jane in seinen Armen, von Weinkraempfen geschuettelt. Klick.
Er schuettelte unwillig den Kopf. Er wollte sich nicht an die schlechten Zeiten erinnern. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.

Sein Blick wanderte zurueck zu Janes Tagebuch. ‘Liebes Tagebuch’ stand da, und am rechten Rand der Zeile: 18. September 1981. Das ist falsch, dachte er, das ist das falsche Datum, nicht dieser Tag. Er hielt das Buch mit dem Kleinen und dem Zeigefinger und blaetterte mit dem Daumen zurueck. Haette er beide Haende verwenden koennen, waere es einfacher gewesen, aber so...
Seite um Seite blaetterte er zurueck, vergebens. Immer wieder tauchte derselbe Eintrag auf der Seite auf. Nur die Schrift aenderte sich, wurde verwaschener, wurde groesser, wurde unruhiger, als waere der Eintrag in grosser Hast oder unter Schmerzen geschrieben worden. Das Buch schrie ihm das Datum entgegen, den 18. September 1981.
Dieser verfluchte Tag, dachte er und schoss die Augen.

Klick. Jane und Andy, in inniger Umarmung. Klick. Jane und Peter, kuessend. Klick. Jane, die Haende auf den Bauch gepresst, die Augen voll Schmerz. Klick. Jane am Boden, in der langsam groesser werdenden Lache ihres Blutes. Klick.

Sein Blick wanderte wieder zu seiner Hand, aber sie war leer. Er hatte den Fokus verloren. Konzentriere dich, mahnte er sich, reiss dich zusammen. Langsam konnte er die Umrisse wieder erkennen, dann endlich schaelte sich das Tagebuch aus duenner Luft wie Jack the Ripper aus einem Schatten der Dorset Street. Da war es wieder, aufgeschlagen am 18. September 1981.

Diese Seite hatte er niemals gelesen, er wuerde sie auch nicht lesen, niemals. Es war nicht seine Schuld gewesen. Sie haette das nicht sagen duerfen, nicht so, nicht auf diese Art, nicht mit diesem mitleidigem Blick. Sie haette ihn nicht so behandeln duerfen. Ihn, der seinen ganzen Mut zusammengenommen hatte. Ihn, der ihr endlich seine Liebe gestanden hatte. Ihn, der immer fuer sie da gewesen war. Er hatte mehr verdient als Mitleid.

Die Bastarde, die sie nach Hause gebracht hatten, hinterliessen immer nur Scherben und Truemmer, und er hatte sich dann um sie gekuemmert, er hatte ihr Mut zugesprochen, er hatte die Bruchstuecke ihres Egos aufgesammelt und wieder zusammengefuegt, ein ums andere Mal. Niemand haette diese Undankbarkeit ertragen koennen. Nein. Es war nicht seine Schuld gewesen.

‘Moechten Sie noch etwas sagen?’. Die ueberraschend sanfte Stimme des Direktors riss ihn aus seinen Gedanken. Er dachte nach. ‘Wuerden Sie mir noch ein letztes Mal das Lied vorspielen?’.
Bedauernd schuettelte der Direktor den Kopf ‘Sie wissen, dass ich das nicht tun kann.’
Er nickte. Auch gut. In Janes Tagebuch war ohnehin nie Platz fuer ihn gewesen.

Der Direktor gab jemandem den er nicht sehen konnte ein Zeichen, und er hoerte ein leises Zischen. ‘Seltsam’, dachte er kurz bevor sein Leben in einem Inferno aus Schmerz und Kraempfen verging, ‘man spuert es kaum.’

[inspiriert von 'The Diary of Jane' by Breaking Benjamin]

1 comment:

Sophie said...

Ist wirklich gut - erinnert mich ein bisschen an Falkos "Jeanny" nur mit heftigerem Ende - spielt wohl nicht hier :)