Saturday, June 12, 2010

Eisblumen

Hallo Ihr Lieben,

Nach langer, langer Zeit wieder mal eine Kurzgeschichte. Ich hab mich ein wenig gespielt und stilmässig etwas neues probiert, und wuerde mal sagen, das ist nur mäßig geglueckt :). Aber gut. Hier sind die Eisblumen.


In einem tief verschneiten Tal sieht ein alter Mann aus dem Fenster und wartet. Er wird sicher bald gerufen werden.

Wie immer seine Blicke nicht von den Eisblumen lösen, die zwischen den Doppelfensterscheiben wachsen. Für ihn sind sie ein Zeichen der Ewigkeit, eben weil sie so vergänglich sind. Sie werden schmelzen, und sie werden nach demselben Muster neu entstehen. Jedesmal anders, in immer gleicher Perfektion. Phoenix, denkt er, war nichts dagegen. Ihn gab es nur einmal, doch Eisblumen entstanden überall auf der Welt auf dieselbe Weise, nach demselben makellosen Muster, sogar hier. Auf jene seltsame Weise, in der Überzeugungen manchmal wie aus dem Nichts erscheinen, stellt er fest, dass nichts Lebendiges dieser einfachen Eleganz jemals ebenbürtig sein könnte.

Dann fällt ihm eine Bewegung auf, und er sieht in Richtung der Berge. Von dort führt ein verschlungener Pfad zu der Hütte, und über diesen Weg kommt eine kleines Mädchen gelaufen. Nichts an diesem Anblick ist für den altem Mann überraschend. Er hat seltsameres gesehen, seit er hier angekommen ist. Der Schnee des Pfades knirscht trocken unter ihren nackten Füßen, und eigentlich müsste sie in ihrem leichten Sommerkleid bitterlich frieren. Und doch ist sie das Sinnbild eines fröhlichen kleinen Mädchens. Eines der jener Art, dass seiner Mutter an einem Sommertag eine selbstgepflückte Blume schenkt und dabei das stolzeste Mädchen der Welt ist. Eines Mädchens, dass sich nichts Schöneres vorstellen kann, als im Garten der Hauskatze nachzujagen.

Das kleine Mädchen betritt die Hütte und sieht sich neugierig um, doch es gibt hier nur wenig, dass ihre Aufmerksamkeit fesseln könnte. Ein schmuckloser Holzbau mit einer kleinen Feuerstelle in der Mitte. Ein grober Holztisch mit ein paar Stühlen, eine schlichte Schlafstatt die zur Not auch mehreren Leuten Platz geboten hätte. Hier gab es nichts, was die Aufmerksamkeit von einem selbst abgelenkt hätte. Das ist der Zweck dieses Orts.

“Hallo Grossvater” begrüsst ihn das kleine Mädchen, “bist du denn ganz alleine hier? Sind die anderen alle schon gegangen?”

“Hallo meine Kleine” sagt der alte Mann sanft “ja, es kommen nicht mehr viele hierher. Und nur wenige bleiben so lange wie ich. Ich kann noch nicht gehen. Er wird mich bald rufen.”

In letzter Zeit war es hier ruhig geworden. Über lange Zeit hinweg, draussen wohl mehrere Jahre, waren sie in Strömen gekommen. Waren den Pfad hinabgestiegen, hatten in der Hütte ein wenig verweilt und waren danach entschwunden. Der Alte Mann hatte sich nicht um sie gekümmert, aus seinem Fenster hinausgesehen und die Eisblumen betrachtet. Sie mochten sich aufgegeben haben, aber er nicht. Er würde sicher bald gerufen werden. Wärend er wartete versiegten die Ströme langsam, ganz so, als wäre draußen nicht mehr genug übrig um sie zu speisen. Es kamen immer weniger Reisende, und schließlich trafen sie nur noch sehr vereinzelt ein. Es gab wohl nicht mehr viele da draußen.

Das kleine Maedchen sah ihn mitfühlend an. “Du wärst nicht hier, wenn er das tun würde. Komm, wir können gemeinsam gehen, wenn du willst”, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. “Hier will ich sowieso nicht bleiben, hier ist es mir zu langweilig. Kommst du?” Ein Zitat kommt ihm in den Sinn, nach dem Kinder flügellose Engel wären. Auf dieses Mädchen trifft dies zweifellos zu.

Der alte Mann lächelt traurig. Die meisten waren wie sie gewesen, rasch entschlossen. Solche, die nur einmal tief durchatmeten und dann durch die schmucklose Hintertür wieder verschwanden. Aber er kann noch nicht gehen. Er wird sicher bald gerufen werden. “Nein, meine Kleine”, antwortet er, “Ich bleibe noch ein bisschen.”

“Wie du willst, Grossvater.”, sagt das kleine Maedchen unbekümmert und geht auf die Hintertür des Hauses zu. Kurz bevor sie die Tür erreicht, dreht sie sich noch einmal um. “Bist du nicht einsam hier?” fragt sie.

“Nein. Ich warte nur.” Dann, aus einer Gerühlsregung heraus die er selbst nicht ganz verstand, fügte er hinzu: ‘Aber du musst noch nicht gehen. Bleib hier und erzähle. Wer warst du?”

“Och, das lohnt sich gar nicht. Ich bin ein kleines Mädchen, mit dem er mal gespielt hat. Er fragte nicht mal nach meinen Namen, aber er erinnerte sich oft an mich, und lächelte dabei. Aber er hat mich lange nicht mehr gerufen, und ich mag nicht mehr darauf warten. Lebwohl, Grossvater!”, spricht sie, öffnet die Hintertür und tritt hinaus. Sie reckt die Arme zum Himmel, lächelt und löst sich in ein Gestöber aus Schneeflocken auf, die der sanfte Wind über die Ebene verteilt.

Dann ist das Maedchen verschwunden, nur ein paar Kristalle mehr im grossen Ozean der verlorenen Erinnerungen. Lange blickt der alte Mann auf die Stelle, an der es zuletzt gestanden hat, während der Wind die Tür leise hin und her bewegt. 'Was mache ich hier denn noch', fragt er sich traurig, 'Warum bin ich denn noch immer hier?' Dieses Tal ist eine Einwegstation, ein letzter Ruheplatz für all jene Erinnerungen, die auf ewig entschwunden sind und niemals wiederkehren. Vielleicht würde er doch nicht mehr gerufen werden. Er geht zur Tür und sieht hinaus, spürt die Verlockung. Einfach hinaustreten. Vergessen sein.

Dann schüttelt er den Kopf und schliesst die Tür.

In einem tief verschneiten Tal sieht ein alter Mann aus dem Fenster. Er wird sicher bald gerufen werden.