Monday, January 11, 2010

Sie kamen zu fuenft.

Sie kamen zu fuenft. Manfred war alleine, denn sie waeren sonst nicht gekommen. Es hatte endlose Versicherungen via Funk gebraucht um sie davon zu ueberzeugen, dass ihnen hier niemand auflauern wuerde. Die meisten Banden waren aus guten Gruenden ein wenig paranoid, aber die Gripps? Sie als 'ein wenig' paranoid zu bezeichnen waere in etwas so, als wuere man sagen, der Papst sei 'ein wenig' religioes.

Wenn es noch einen Papst geben wuerde, natuerlich. Oder Rom. Oder Italien. Suedlich der Alpen war nichts ausser verstrahlter Wueste uebriggeblieben, das wusste jeder.
Auch in der kargen Steppe, in der er jetzt stand, wuerden nie wieder Weinreben wachsen. Aber immerhin war es sauberer Sand, den ihm der allgegenwaertige Wind in seine Augen blies. Guter sauberer Sand.

Und so stand er da, waehrend sie in ihrem Pickup Runden um ihn drehten. Laut schreiend schwenkten sie ihre Stahlstangen, sogar der Typ hinter dem Steuer. Manfred verdrehte die Augen und hoffte dass sie es nicht sehen wuerden, aber das Beduerfnis war zu gross. Sie waren offensichtlich Idioten. Beschraenkte, primitive, stinkende und wahrscheinlich betrunkene Idioten. Mit dem einzigen Benzin weit und breit. Also wuerde er mit ihnen verhandeln, die Ruhe bewaren und ihnen ein paar Kanister fuer die Station abnehmen, irgendwie.

Wie er das hasste. Immer verlor er beim Pokern, jedes verdammte Mal. Zumindest kam ihm das so vor. Die ganze Chancenrechnerei nuetzte nichts gegen das Pik As, mit dem Antoine sein eigenes Full House zu einer Laecherlichkeit degradiert hatte. Er haette nicht All-In gehen sollen, das wusste er jetzt. Aber er war sicher gewesen das Antoine bluffte, so sicher. Scheiss Franzose.

Und jetzt schlug er sich mit den Gripps herum. Die Gripps. Was fuer ein laecherlicher Name. Und dann erst dieses selbst aufgezeichnete, schon wieder abblaetternde Bandenzeichen auf dem Pickup.

Jetzt hatten sie einen Drift hingelegt, standen mit dem Heck des Autos zu ihm und sprangen ab. Manfred war sicher das sie das trainiert hatten, denn standen jetzt in einem unfertigen V da. Sie warteten auf den Fahrer, der ohne Zweifel ihr Anfuehrer war und die Spitze uebernehmen wuerde. Wie unangemessen theatralisch. Wie laecherlich pathetisch. Und jetzt liessen sie auch noch diese Stangen in ihre Handschuhe klatschen. Manfred widerstand dem Drang seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger zu massieren, wartete, und sah sich die Truppe an.

Das Leben unter freiem Himmel hatten den Gripps nicht allzu gut getan. Ihre ausgemergelten Gesichter zeigten deutliche Spuren von allerhand Ausschlaegen. Links vorne stand ein Junge von vielleicht 20 Jahren, die Haare zu einem Irokesen rasiert. Er hatte einige haessliche Pusteln am Hals, an denen er sich unentwegt kratzte. Inzwischen war der Anfuehrer an die Spitze getreten, mit Abstand der haesslichste der fuenf. Er war ziemlich gross, knappe zwei Meter, ein pockennarbiger, vierschroetiger Kerl wie aus einem Eastwoodwestern mit dem armseligen Versuch eines Vollbarts. Er trug einen Hut und einen knielangen Trenchcoat, der im Wind flatterte. Von der Stirn ueber das rechte Auge bis zum Hals zog sich eine lange, zart rosafarbene Narbe.

Manfred malte sich die naechsten paar Minuten aus. Der Anfuehrer wuerde ihn boese anstarren, irgend etwas ueberfluessiges wie ‘Wir sind die Gripps’ von sich geben und ihm ausfuehrlich beschreiben, warum es eine schlechte Idee waere sie zu hintergehen. Vermutlich wuerde er ihm von Anderen erzaehlen, denen es sehr, sehr schlecht ergangen war, eben weil sie es so etwas versucht hatten. Sie wuerden auf jeden Fall ueber sein Moped lachen, aber das wuerden die einfachen Bandenmitglieder uebernehmen. Der Anfuehrer selbst wuerde nach wie vor grimmig dreinsehen und bestenfalls den Schatten eines Laechelns auf seine Lippen lassen. Danach wuerden sie viel weniger Benzin als vereinbart anbieten, zu einem mehrfachen des Preises verstand sich, und ihm sagen das er ‘froh sein solle, dass sie ihn nicht einfach totschlugen und ihm die Medikamente einfach wegnahmen’. Es war immer dasselbe.

Er war es so leid, mit diesen Narren Katz und Maus zu spielen, aber sie brauchten den Strom. Es ging nicht immer genug Wind fuer die Kuehlanlagen.

‘Wir sind die Gripps’, sagte der Anfuehrer und verbeugte sich spoettisch.
‘Du meine Guete’, dachte Manfred, ‘der haelt sich auch noch fuer gewitzt.’ Das waren die schlimmsten. Vermutlich wuerde er irgendwann Shakespeare zitieren. Falsch natuerlich.

‘Ich bin Alex.’ sprach der Huehne weiter, laechelte breit und entbloesste dabei eine schwarzbraune Ruine von Zahnreihe. ‘Komm nich auf die Idee uns bescheissen zu wollen, Arschloch. Das ham schon andere probiert und es is ihnen nich gut bekommen. Isses nicht so, Jungs?’.

Von den anderen erhob sich nun zustimmendes Gemurmel.
‘Gar nich gut bekommen.’
‘Haben sie spueren lassen was es heisst uns zu hintergehen.’
‘Jaa, wir ham ihnen die Koepfe eingeschlagen!’
‘Scheiss Futter fuer die Raben.'
'Haben den Viechern zugesehen wie sie die Haut von ihnen pickten nachdem wir sie aufgeknuepft hatten.’
‘Gar nich gut bekommen, nein.’
Und so weiter. Manfred hatte grosse Muehe nicht mit der Hand zu wedeln um ihnen zu bedeuten weiter zu machen.

‘Wir Gripps’, sprach der Anfuehrer nun weiter, ‘halten unsere Versprechen, und du solltest das auch machen. Sonst knipsen wir dich aus.’, und schnippte mit den Fingern um anzuzeigen, wie leicht es ihnen fallen wuerde. Die anderen murmelten zustimmendes ‘einfach so’ und ‘bloss so’, und machten angemessen Handbewegungen. Es war zum Verzweifeln.

‘Johnny, hol die Kanister’ wies Alex nun den Jungen mit dem Irokesen an. Johnny sagte nur knapp ‘Ja, Boss’ und ging zum Wagen zurueck. Kurz darauf kehrte er mit zwei Zehnliterkanistern zurueck. Natuerlich war das nur ein Drittel der ausgemachten Menge. Vermutlich wuerden Alex nun sagen, dass der Benzin schwerer zu besorgen gewesen war und daher natuerlich auch teurer.

‘Das hier ist beste Ware. Feinster Benzin aus ‘ner alten Esso Tankstelle, richtig gutes Zeug. Ham wir selbst aus dem Boden gepumpt. Ich sag dir, das war nich einfach, ‘ne Menge anderer Leute wollten auch was davon haben. Johnny musste einen mit dem Benzinschlauch erwuergen, sonst haetten die nie Ruhe gegeben. Er hat jetz grosse Gewissensbisse deshalb, nicht wahr, Johnny?’.
Johnny nickte eifrig, und Alex bleckte seine Zaehne.
‘Ihr werdet uns die Unkosten ersetzen muessen. Ihr bekommt nur zwei Kanister’. Nach Unkosten hatte eine kurze Pause gemacht, als haette er etwas besonders Kluges gesagt. Schwachkopf.

‘Wir hatten sechs Kanister ausgemacht.’ sagte Manfred ruhig.
‘Der Preis hat sich erhoeht, sagt der Boss.’ stiess Johnny hervor, und Alex sah ihn zornig an.
‘Ich rede hier!’ zischte er.
Manfred zuckte die Achseln, und ging zu seinem Anhaenger. Hinter sich hoerte er die Rufe.
‘Was isn das?’
‘Der Kerl faehrt ‘nen Roller’
‘Die ham sich ‘nen Anhaenger drangeschweisst.’
‘Koennen sich wohl kein Auto leisten’
Alles war immer wieder von Gekichere durchsetzt. Manfred nahm die oberste Steige Konserven, ging zurueck und stellte sie vor sich auf den Boden.

‘Für zwei Kanister bekommt ihr nicht mehr, das wisst ihr.’
‘Allwissend bin ich nich, aber ich weiss viel.’ knurrte Alex. ‘Aber ich will nicht so sein. Johnny, hol noch einen Kanister.’ Ein Goethezitat also. Manfred fand das durchaus beeindruckend, so falsch musste man den mal zitieren.
‘Aber Boss, du hast doch gesagt gesagt dass...’ begehrte Johnny auf, bevor Alex ihm scharf das Wort abschnitt: ‘Hol jetzt noch einen Kanister verdammt.’
Manfred laechelte innerlich. Da war der Riss in der Gruppe. Er musste ihn nur noch ein wenig aufweiten.

‘Johnny, hol doch gleich alle.’, wannte sich Manfred nun direkt an den Jungen. ‘Fuer drei Kanister kriegt ihr auch nur zwei Steigen Konserven. Das ist eigentlich zu viel, aber ich will nicht so sein. Aber keine Medikamente, und keine Batterien. Am besten du bringst gleich alle sechs, wie ausgemacht.’ Johnny sah zweifelnd zwischen ihm und Alex hin und her.

‘Gut, hol zwei Kanister.’ Alex wirkte inzwischen ein wenig unsicher, und seine Leute wurden unruhig. Manfred sah sich die anderen Vier genau an. Die Verhandlungen liefen nicht so wie ihnen ihr Anfuehrer das versprochen hatte, und seine Authoritaet schmolz wie ein Schneemann im Sommer. Wer wohl den ersten Schritt machen würde? Vermutlich der Kleine rechts von Alex, der inzwischen unruhig von einem Fuss auf den anderen stieg und ihn hasserfuellt anstarrte.

‘Johnny, das sind zu wenige.’ sagte Manfred in unbekuemmerten Tonfall als dieser die beiden Kanister abstellte und keine Anstalten machte, noch mehr zu holen. Er laechelte ihm freundlich zu. ‘Wir hatten sechs ausgemacht.’

‘Verdammt, ich führ hier die Verhandlungen, Arschloch.’ sagte Alex wuetend. ‘Wenn du mit jemanden sprichst, dann mit mir, is das klar? Johnny bleibt hier, bis ICH’ er spuckte das Wort geradezu heraus, ‘bis ICH ihm sage das er etwas holt, klar? Und jetz bring das restliche Zeug.’
Manfred holte eine zweite Steige Konserven und stellte sie vor sich ab. ‘Bitte schoen.’
‘Verdammt Alter, hast du ‘n Rad ab?’ schrie Alex. Zorniges Gemurmel von den anderen.

‘Ach ja, entschuldige bitte.’ Manfred fischte zwei Batterien aus der Jackentasche und stellte sie auf die Konserven.

Der Kerl links aussen stiess einen unverstaendlichen Schrei aus und stuerzte mit erhobener Waffe nach vorne. Das kam ueberraschend, Manfred hatte nicht gedacht, dass von ihm Gefahr ausgehen wuerde.
‘Bin wohl kein besonders guter Menschenkenner.’ dachte Manfred. Dann zog er achselzuckend die Pistole und schoss dem Angreifer ins Bein, der mit einem Schrei zu Boden stuerzte. Eine kleine Staubwolke stieg einen halben Meter hinter dem getroffenen auf. Manfred nickte befriedigt. Das wuerde die Sache einfacher machen.

Johnny schrie heiser ‘Tobias!’ und stuerzte vor, waehrend die anderen unglaeubig auf die Waffe starrten und einen Schritt zurueckwichen. Tobias waelzte sich schreiend im Staub.

Manfred steckte die Pistole wieder hinten in die Hose und laechelte die vier offen an. Keiner hatte eine Schusswaffe gezogen, nicht einmal ein Wurfmesser. Hier hatte er mehr Glueck als beim Pokern. Verdammtes Pik As.

‘Johnny, du kannst deinem Freund Tobias hier gerne helfen.’ Er sah zu wie Johnny den Mann unter den Achseln packte und ihn wegschleifte.
‘Seht mal, wir koennen das Geschaeft jetzt so abschliessen wie wir's jetzt haben. Andererseits habe ich hier hinten noch eine Palette Konserven, und eine Packung mit Medikamenten und Antibiotika, die Tobias hier sicher in den naechsten Wochen gut gebrauchen kann. Es ist nur ein Durchschuss, der wird gut verheilen. Allerdings’, er machte eine bedeutungsschwere Pause, ‘sind meine Unkosten’ er lies seinen Blick bei diesem Wort herablassend auf Alex ruhen ‘gestiegen, und die werdet ihr mir abdecken muessen. Acht Kanister, dafuer bekommt ihr noch eine zusaetzliche Palette mit Lebensmitteln. Johnny, was sagst du?’

Alex stand bebend da, die Haende zu Faeusten geballt, waehrend seine Leute noch immer fassungslos abwechselnd zu ihm, Johnny und Manfred starrten. Tobias war sehr bleich geworden, wimmerte schwach und hielt sich das blutdurchtraenkte Hosenbein.
Wenn nicht schnell eine Entscheidung fiel, wuerde die Situation brenzlig werden. Manfred hatte nicht genug Kugeln fuer alle. Er zaehlte die Sekunden. Maximal zwanzig, so schaetzte her. Dann wuerde er handeln muessen, sonst wuerden sich die Gripps vom Schock erholen.
‘Okay, okay. Wir machens so.’ stiess Johnny hervor.
‘Glueck gehabt, das ging schneller als gedacht’, dachte Manfred, der gerade erst bei acht angekomemn war.
Dann erklaerte er ihnen, wie er sich den restlichen Ablauf vorstellte.

Ein paar Stunden spaeter sass er zufrieden bei seinem Lagerfeuer. Acht Kanister waren eine ziemlich gute Ausbeute, die wuerden einen ganzen Monat reichen wenn der Wind stimmte. Wieder mischte er die Karten und legte sie vor sich auf um sich die Reihenflolge einzupraegen.
Herz Dame, Treff Zehn, Karo Bub, Pik As.
‘Verdammtes Pik As’, knurrte er und haette es am liebsten in die Flammen geworfen, hielt sich aber zurueck. Komplette Kartensets waren selten.
Muessig starrte er auf die nie verschwindende Wolkendecke. Noch eine Stunde, schaetzte er, dann wuerde es dunkel genug sein. Die Gripps waren schon vor ein paar Stunden verschwunden und leckten irgendwo ihre Wunden, aber er konnte keine Verfolger riskieren.
Karo Koenig, Karo Acht, Pik As, Karo Neun, Herz Acht.
Verwirrt hielt er inne. Pik As? Schon wieder? Er blaetterte ein paar Karten zurueck und lachte dann unglaeubig.
Dieser Scheisskerl von einem Baguettefresser.
Das wuerde er ihm buessen.

Wednesday, January 06, 2010

Pawis Zug

Es war leichter gewesen als Pawi gedacht hatte. Durch die Eingangstuer waere sie niemals gekommen. In der zur Verfuegung stehenden Zeit haette sie das Siegel des Schlosses niemals brechen koennen. Auch die Fenster waeren zweifellos aehnlich gut gesichert gewesen. Aber Pawi hatte keinen dieser Wege auch nur in Betracht gezogen. Sie war voellig ungehindert durch den Kamin gekommen.

Sie laechelte. Das funktionierte bemerkenswert oft. Natuerlich haette ein normaler Mensch nicht durch den Schornstein gepasst, aber sie war streng genommen kein Mensch. Es hatte keiner grossen Anstrengung bedurft, ein paar kleine Kniffe gegen die Hitze und es war erledigt.

Der Speisesaal war leer gewesen, abgesehen von dem beinahe absurden Luxus der sich dort sammelte. Es war alles da. Kunstvoll geschnitzte Stuehle, eine sicherlich zehn Meter lange Tafel, Wandteppiche die Szenen der Familiengeschichte zeigten. Sie verstaerkte das Licht, um einen genaueren Blick auf die Szenen werfen zu koennen. Drachen? Laecherlich. Diese Familie war sicher nicht alt genug, um damals mitgekaempft zu haben.

Als Pawi auf leisen Sohlen den Raum durchquerte, sah sie aus dem Augenwinkel etwas glitzern.
Tatsaechlich. Sand. Nervoes sah sie sich um, die Schatten tanzten im Schein ihrer nun leicht flackernden Lichtkugel. Wenn es hier Sand gab, war ihr Auftrag schwieriger als es den Anschein gehabt hatte. Gut, es war zu wenig um sie in Gefahr bringen zu koennen, aber vielleicht war es nicht der einzige Sand im Haus.

‘Ksyrianier’, schimpfte sie. Es war immer dasselbe mit den verdammten Echsen. Sie erzaehlten immer nur die Haelfte um den Preis zu druecken. Grundsaetzlich war das war schon in Ordnung, solange sie dabei nur ein oder zwei zusaetzliche Wachmaenner unterschlugen. Aber Sand? Nun, das war etwas ganz anderes. Sie wuerde sich Ka’ao vornehmen, das war sicher. Wenn sie hier fertig war.

Sie sah sich die Phiole genauer an. Zwanzig, vielleicht sogar dreissig Gramm. Welcher Mann verwahrte solche Mengen Sand in seinem Speisesaal? Vielleicht nur ein ziemlich dummer reicher Kerl der sich den Sand als Trophäe hierhergestellt hatte, gemeinsam mit den exotischen Tierkopefen an der Wand.
Obwohl sie keinen Schritt von der Phiole entfernt stand, konnte sie das Bannfeld kaum wahrnehmen. Ein Feld dieser Staerke haette eigentlich im gesamten Raum deutlich spuerbar sein sollen. Kopfschuettend betrachtete sie den Behaelter. Das war gute Arbeit. Verdammt gute Arbeit. Hoffentlich die einzige ihrer Art in diesem Haus. Sie wuerde sehen.

Ihre Grossmutter hatte immer erzaehlt, dass in ihrer Jugendzeit Sand noch etwas ganz normales gewesen war. Stoff fuer goldgelbe, koernige Traeume, in denen mysthische Karawanen durch reiche ferne Laender zogen.
Legion war die Zahl der Theorien, warum das heute nicht mehr so war.
Es lag an den fehlgeschlagene Beschwoerungen dunkler Hexer, sagten die einen. Unsinn, dies waere die Strafe dieses oder jenes Gottes, meinten Andere. Nein, Alchemisten seien daran schuld. Laecherlich, die Geister der Toten bewegten den Sand. Und so weiter.
Pawi war das egal, fuer sie machte keinen Unterschied. Man musste mit den Dingen arbeiten, die man zur Verfuegung hatte. Solange Sand eine verflixt aggressive und toetliche Substanz war, handelte man besser angemessen.

Wenn sie richtig informiert war, sollte das Arbeitszimmer in noerdlicher Richtung liegen. Ein langer Gang, dritte Tuer links, durch das Solar und sie war da. Aufmerksam lauschte sie, aber das Haus blieb ruhig. Weiter.

Das schoene an diesen Reichenhaeusern war, dass die Tueren gut geoelt waren und sich voellig geraeuschlos oeffnen liessen. Der Gang war beleuchtet. Verdammt. Niemand beleutete einen Gang ohne Grund. Zum Beispiel jemand, der hier regelmaessig entlangpatroullierte. ‘Im Haus selbst gibt es keine Wachen’ hoerte sie Ka’ao von irgendwo hinter ihrem Ohr fluestern. ‘Ksyrianier’, knurrte sie, ‘wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dir wuenschen, deine Mutter haette das Ei niemals ausgebuddelt’. Sie schloss die Tuer leise hinter sich, drueckte sich in einem nicht ganz so hellen Eck des Ganges gegen eine Wand und wartete. Ein gaehnender Wachmann in schlecht sitzender Uniform ging an ihr vorbei, keinen Meter von ihr entfernt. Mit angehaltenem Atem stand sie da, denn er konnte sie vielleicht nicht sehen, aber er wuerde sie sehr wohl hoeren koennen. Nachdem er um die Ecke gebogen war schlich Pawi weiter, und stand nach kurzer Zeit im Solar.

Auch das war ein imposanter Raum. Er war ebenso absurd luxurioes eingerichtet, mit seinem Marmorboden und den ganzen edlen Hoelzern. Aber sie hatte keine Zeit ihn sich genauer anzusehen. Die Tuer gegenueber fuehrte ins Arbeitszimmer. Dort, geschnitzt aus poliertem schwarzem Ebenholz, lag das Ziel ihrer Unternehmung. Der Vertrag sollte in einer dunklen Dokumentenrolle sein, mit dem Siegel eines stilisierten Geldbeutels. Etwas drang an ihr Ohr, ein kaum wahrnehmbares Rauschen. Sie erstarrte. ‘Nein’, dachte sie, ‘niemand ist so wahnsinnig, wegen dieser paar Dokumente ... ‘. Rasch liess sie die Kugel in die Mitte des Raumes schweben und drehte sie ein paar Stufen heller.

Wahrscheinlich hatte sie beim Oeffnen der Tuer irgendeinen Mechanismus betaetigt. Nun rieselte Sand auf den Kaminsims. Eine ganze Menge Sand. Instinktiv wob sie Schild, ein fluechtiges, hektisches Ding in dem jetzt schon feine Spinnweben sichtbar waren. Und doch, es wuerde halten. Zumindest eine Zeit lang.
'Auch gut', dachte sie, 'dann sollte das hier wohl besser schnell gehen.'
Methodisch durchsuchte sie die gestapelten Rollen, waehrend der Sand sie zornig umprasselte und einen Weg durch ihre Abschirmung suchte.
Dann, von einem Moment zum naechsten, hoerte das Prasseln auf. Irritiert sah sie sich um. Sie sah gerade noch, wie die letzten paar Sandkoerner durch eine Oeffnung in der huefthohen Statue eines Gargoyles verschwanden.
‘Was bei den Lords der sieben Hoellen war das denn?’ murmelte sie unbehaglich und setzte eilig die Suche nach der Rolle fort. Je schneller sie hier rauskam, desto besser. Endlich hatte sie die Rolle mit dem richtigen Siegel gefunden. Pawi steckte die Rolle in ihre Tasche und wandte sich gerade zum Gehen, als sie aus am Rande ihres Sichtfeldes eine Bewegung wahrnahm. Sie sah zu der Statue hinueber.

Der Gargoyle spannte gerade seine Steinmuskeln und loeste mit lautem Krachen eines seiner Vorderbeine von seinem Podest. Er schien nicht zu bemerken, dass er dabei eine seiner Zehen auf dem Sockel geblieben war. Pawi stand mit offenem Mund da und konnte nicht fassen, was sie da sah. Von so etwas hatte sie noch nicht einmal gehoert.
Nachdem der Gargoyle auch seine anderen drei Beine geraeuschvoll befreit hatte, reckte er sich traege und funkelte Pawi aus rotgluehenden Augen an. Zweihundertfuenfzig Pfund makeloser, angriffslustiger Marmor. Und keine Chance, dass das Krachen draussen unbemerkt geblieben war. Soviel zu ihrer leisen Rein und Raus Strategie.
'Scheisse' fluchte Pawi leise.

Der Gargoyle schnupperte und blickte sich im Raum um. Es war ein haessliches drachenartiges Tier mit viel zu grossen Zaehnen. Pawi sah die Muskeln der Hinterlaeufe zucken und duckte sich instinktiv. Die Statue segelte ueber sie hinweg, krachte in das Regal hinter ihr und verschwand unter den Truemmern. Ein heisser Schmerz durchfuhr sie, als sich einer der Holzspitter in ihren Unterarm bohrte. Sie unterdrueckte den Schrei und zog das Holzstueck vorsichtig aus der Wunde. Sie betrachtete das dunkel glizernde Stueck kurz und liess es achtlos fallen. ‘Wunden heilen’ knurrte sie und hechtete ueber den Tisch. Sie nahm den Stab von ihrem Guertel, lies ihn auf eineinhalb Schritt Laenge anwachsen und wartete.

Der Gargoyle rappelte sich hoch und sprang auf den Tisch, der unter seinem Gewicht betraechtlich aechzte. Er spannte sich abermals. Der Sprung gegen die Mauer hatte ihn die Ohren, einen Fluegel und einen Teil des Unterkiefers gekostet. Diesmal war sie vorbereitet. Als das Tier sprang, fuhr sie mit Stab unter den Gargoyle und hebelte ihn ueber sich hinweg. Dabei stuezte sie den Stab am Boden ab, um ihn nicht aus den Haenden gerissen zu bekommen. Die Statue flog durch das halbe Arbeitszimmer und prallte gegen den Kamin, um dort in einem Wirbel von Ziegeln und Staub zu Boden zu gehen.

‘Zeit zu gehen’, dachte sie, hechtete auf den Ausgang zu. Als sie nach dem Tuerknopf griff, flog diese mit Schwung auf. Das Tuerblatt schlug Pawi mit voller Wucht gegen die Schlaefe. Benommen taumelte sie zurueck und waere gestuerzt, wenn sie nicht zufaellig gegen den Schreibtisch geprallt waere. Verwirrt griff sie sich an die Schlaefe und betrachtete unglaeubig den dunklen Fleck auf ihrer Hand. Eine Platzwunde. Der Wachmann sah sich mit offenem Mund das verwuestete Zimmer an, bevor sich sein Blick sie fixierte. Er zog sein Kurzschwert und gab sich dabei sichtlich Muehe, nicht aengstlich zu wirken.

‘Keine Bewegung, verdammt!’ sagte er mit zitternder Stimme, ‘Verstaerkung ist ..’. Sie rammte ihm die Schulter in den Bauch und stuerzte in dem wieder aufkommenden Schwindelgefuehl beinahe. Stolpernd zwaengte sich an dem zusammenbrechenden Wachmann vorbei vorbei und hastete durch das Solar. Sie war kaum in den Gang zum Speisesaal gebogen als sie das hinter sich das Schaben der marmornen Krallen auf dem Boden hoerte, und beschleunigte nochmals ihre Schritte. Sie stiess die Tuer des Speisesaals auf, lief laengs ueber den Tisch und blickte im Lauf nach rechts. Die Phiole stand noch immer gut verschlossen da, Keos sei Dank. Dann hatte sie das Ende des Tisches erreicht und hechtete in den Kamin. Noch im Sprung wob sie den Hitzeschild und dehnte sich weit genug, um durch den Schornstein zu passen. Sie war noch keine zwei Meter geklettert als der Gargoyle mit solcher Wucht in den Kamin krachte, dass ihr der aufsteigende Staub Sicht und Atem nahm. Aber er kam nicht mehr an sie heran.

Am Dach angekommen legte sie sich auf die Schindeln, hustete ausgiebig und wartete, bis sie wieder einigermassen frei atmen konnte. Dann band sich ein Stueck ihres ohnehin zerfetzten Aermels um den noch immer blutenden Unterarm und zog es mit den Zaehnen fest. Danach betastete sie vorsichtig ihre Schlaefe, aber Wunde blutete nicht mehr. Geschafft. Sie zog die Rolle aus dem Aermel und zuendete eine neue Kugel an. ‘Mal sehen, was wir da eigentlich haben.’ murmelte sie und rollte das Dokument auf. Oben war eine Art Logo zu sehen, eine dunkle schleichende Gestalt mit dem Wahlspruch 'Leise - Zuverlaessig - Diskret' kreisfoermig rundherum geschrieben. Darunter stand in sauberer Handschrift:

Wir freuen uns Ihnen mitteilen zu koennen dass Sie, liebe Pawi al’Tigra, durch Diebstahl dieses Dokuments in den Rang eines
Beutelschneiders dritter Klasse
erhoben werden. Bitte finden Sie sich morgen um die Mittagsstunde im Gildenhaus ein, um das Aufnahmezerimoniell duchzufuehren.

Wir hoffen, sie hatten einen erquicklichen Beutezug und verbleiben mit kollegialen Gruessen!

gez. Ka’ao
Hocherster der Diebesgilde von Kal’ul.’